Comfort Watching: Die Kunst der Wiederholung

Das Leben ist zu kurz, um Filme und Serien zweimal zu sehen! Oder?

Wie komme ich darauf? Ich habe kürzlich den Film „Der Hofnarr“ gesehen und direkt eine Watch-Empfehlung geschrieben. Wer sich noch an „Der Wein mit der Pille ist im Kelch mit dem Elch. Im Becher mit dem Fächer ist der Wein gut und rein“, erinnert, findet hier den Artikel dazu.

Dann habe ich mir gedacht, dass wir alle so viel zu tun und so wenig Zeit haben. Unsere Zeit sollten wir doch besser mit neuen Inhalten verbringen und nicht mit Wiederholungen. Sollte ich lieber nur aktuelle Filme und Serien empfehlen und keine uralten Kamellen?

Warum wir Comfort Watching mögen

Nein, denn ab und zu brauchen wir das, was Alexis Nedd 2019 „Comfort Binge“ genannt hat. In der SZ hat Dorothea Wagner das Prinzip dahinter gut zusammengefasst. Kurz gesagt geht es darum, warum wir uns Serien oder Filme wiederholt anschauen. Die Antwort ist einfach: Wir möchten mit minimalem Aufwand größtmögliches Vergnügen erzielen.

Während Alexis Nedd Comfort Watching auf seichte Unterhaltung reduziert, würde ich sagen, dass die Art der Unterhaltung tatsächlich keine Rolle spielt. Die Wiederholung ist das Kernelement des Comfort Watchings. Wiederholung und Vorhersehbarkeit geben uns Sicherheit und beruhigen uns. Es ist einfach gut zu wissen, welche Emotionen einen beim Konsumieren erwarten. Das gibt uns ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. 

Das ist übrigens auch gar nicht neu. Schon als Kind hat es uns ein Gefühl der Geborgenheit gegeben, wenn wir Geschichten immer wieder und wieder gehört haben. Das konnte das Vorlesen eines Buchs sein, ein Hörspiel oder ein Film. 

Wenn wir einen Film anschauen, den wir schon kennen, wissen wir ganz genau, welche Gefühle er in uns auslösen wird. Da gibt es keine Überraschungen. Bei jedem neuen Film oder jeder neuen Serie wissen wir das nicht. Wir müssen uns auf etwas Neues einlassen. Neues birgt immer ein Risiko. Es besteht die Möglichkeit, dass wir beispielsweise enttäuscht, gelangweilt oder auch verärgert werden. All diese Dinge sind nicht besonders positiv für uns. Manchmal wollen wir einfach ohne viel Energieaufwand ein positives Erlebnis genießen, besser gesagt ein möglichst vorhersehbares Erlebnis.

Und das fängt schon bei der Entscheidung für oder gegen einen Film an, denn die ist ziemlich komplex und hängt von vielen Faktoren ab. Das kann ganz schön anstrengend sein. Auch hier hilft uns das Prinzip des Comfort Watching, indem wir einfach etwas Bekanntes auswählen, statt uns mit der Suche nach einem neuen Film oder einer neuen Serie aufzuhalten.

Streamingdiensten und Algorithmen

Tatsächlich entscheiden wir in den ersten Minuten, ob wir einen Film oder eine Serie anschauen wollen, dabei spielt die Stimmung, in der wir uns gerade befinden, für uns eine große Rolle, sie trägt zu unserer Entscheidung bei. Streamingdienste versuchen uns in unserer Auswahl zu unterstützen, allerdings ist für einen Algorithmus eine Stimmung ein schwierig zu erfassender Zustand, es bräuchte sehr viele Daten von uns. Bisher erstellt ein Algorithmus unser Profil anhand aller Daten, die ihm zur Verfügung stehen. Dazu gehören zum Beispiel unsere personenbezogenen Daten wie Alter und Geschlecht, aber auch unsere Sehgewohnheiten. Er weiß also, was wir gesehen haben, was wir mehrmals gesehen haben, was wir abgebrochen haben, wo wir einen Trailer gesehen haben, aber anschließend nicht den Film usw. Und natürlich auch Daten, die zeigen, wann und wo wir etwas gesehen haben. Welche Inhalte schauen wir von unterwegs oder welche von zu Hause? Und welche Art von Inhalten schauen wir zu welcher Uhrzeit? Ein Algorithmus eines Streamingdienstes kann zum Beispiel erkennen, wann wir Liebeskummer haben, wann wir unglücklich oder glücklich oder erschöpft sind und noch viel mehr. All diese Daten hat ein Streamingdienst von uns. Dass unsere Daten ausgewertet werden, ist wohl klar. Die Streamingdienste gehen nicht nur wegen der verlorenen Einnahmen gegen Account-Sharing vor, sondern auch, weil es so viel einfacher ist, Userprofile zu erstellen. Und nicht ohne Grund lassen sich bei fast allen Anbietern individuelle Userprofile innerhalb eines Accounts erstellen. Für die Anbieter sind diese Profile genauso nützlich wie für die User selbst.

Es ist schwer zu sagen, inwieweit diese Algorithmen bereits zur Unterstützung unserer persönlichen Entscheidungen, wie der Auswahl von Filmen oder Serien, verfügbar sind. Derzeit wirkt die Nutzung der Daten noch sehr begrenzt. Es scheint, als ob vor allem unsere Sehgewohnheiten analysiert werden: Wenn wir beispielsweise viele Komödien ansehen, werden uns bevorzugt Komödien empfohlen. In Zukunft wird sich das sicherlich ändern. Vor allem der Einzug von KI wird dazu beitragen.

Storytelling im Spannungsfeld

Ich vermute, dass die Masse an Inhalte auf Streamingdienste im Moment eher Comfort Watching unterstützt, sobald die Algorithmen besser werden und die Auswahl für uns einfacher wird, könnte sich das Verhältnis ändern.
Ich frage mich nun, was das für das Storytelling bedeutet, dass Filme und Serien nicht nur mit aktuellen Produktionen in Konkurrenz stehen, sondern auch mit bereits gesehenen und bekannten Inhalten. Die Konkurrenz ist noch größer als ohnehin gedacht.
Ein Film muss sich heutzutage nicht nur gegen andere Filme durchsetzen, sondern auch gegen die Erinnerung des Zuschauers an bereits gesehene Filme und Serien.

Neben den Zusatzinformationen wie Filmbeschreibung, Titelbild und Trailer ist der Einstieg in einen Film oder eine Serie besonders wichtig. Denn da entscheidet sich, ob wir weiterschauen oder abschalten. Das ist allerdings nicht neu. Bedeutet aber dennoch, dass Einstiege besonders interessant, einprägsam oder aussagekräftig sein sollten, um möglichst viele Zuschauerinnen und Zuschauer in den ersten Minuten von einem Film oder einer Serie zu überzeugen

Aber mal ehrlich: Wer hat sich schon mal hingesetzt und bewusst eine möglichst langweilige Exposition geschrieben?
Denkt man so. Doch die Realität sieht manchmal anders aus. Es gibt unzählige Beispiele für Filme und Serien, wo man zunächst eine Durststrecke überwinden muss, bevor es richtig interessant wird.

Übrigens reden wir hier nur über Filme oder Serien, die speziell für Streamingdienste produziert werden, nicht über Kinofilme. Denn im Gegensatz zum Kino, wo wir uns bewusst für einen Film entscheiden und den Kinosaal nur im äußersten Notfall verlassen (was mir in meinem Leben übrigens tatsächlich erst einmal passiert ist), sind wir beim Streaming deutlich schneller dabei, einen Film oder eine Serie auszuschalten, wenn er uns nicht sofort fesselt.

Das Phänomen des Comfort Watching erklärt übrigens auch, warum immer wieder Filme oder Serien Erfolg haben, von denen man sagen würde, dass die Geschichten nicht gerade innovativ sind. Solche Filme und Serien haben ihre Berechtigung, denn sie lassen sich leichter konsumieren und bilden quasi die Brücke zwischen Comfort Watching und gänzlich neuen Inhalten. Remakes sind dafür ein Paradebeispiel.

In diesem Sinne wünsche ich euch gutes Comfort Watching.


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