Tschüss, Goldener Schnitt?

„Der Goldene Schnitt ist tot“, sagte mir neulich ein Cutter in einem Gespräch. Und ich hörte mein Herz in tausend Stücke zerspringen.

In einer von TikTok und Instagram geprägten Welt verändern sich unsere Sehgewohnheiten rasant. Was früher als No-Go galt – horizontale Videos, die Hobbyfilmer und Touristen entlarvten – ist heute Standard. Kein Wunder, denn Smartphones werden fast ausschließlich im Hochformat genutzt und die vertikale Ausrichtung prägt natürlich auch unsere Social-Media-Kanäle. Doch die Veränderungen gehen noch weiter:  Bei den Social-Media-Kanälen hat der Platz für das (bewegte) Bild Konkurrenz bekommen: Like-Buttons, Hashtags, Followerzahlen, Kommentare etc. sind nicht nur Meta-Informationen, sondern spielen eine zentrale Rolle in der Rezeption von Inhalten.

Der Platzbedarf dieser zusätzlichen Informationen führt wiederum zu neuen Herausforderungen in der Bildgestaltung. Sperrzonen entstehen im Videobild, Bereiche, in denen visuell wichtige Informationen nicht platziert werden dürfen, um Kollisionen mit den Elementen der Social-Media-Oberfläche zu vermeiden.

Beispiel: Eine Musikerin, die auf Instagram ein Live-Konzert streamt, muss ihren Auftritt so inszenieren, dass wichtige Elemente wie das Gesicht, das Instrument oder das Publikum stets im Fokus bleiben und gleichzeitig genügend Platz für die Meta-Infos vorhanden ist. Die Fläche / der Raum ist also stark begrenzt.

Abschied vom unsichtbaren Schnitt: Sprunghaft und dynamisch

Aber nicht nur der Goldene Schnitt scheint ausgedient zu haben. Auch der unsichtbare Schnitt, die Kunst, zwei Videosequenzen nahtlos miteinander zu verbinden, ist auf dem absteigenden Ast. Früher hieß das YouTube-Stil, heute ist es so normal, dass es keinen Namen mehr hat. Plattformen wie TikTok setzen auf Jumpcuts und schnelle Schnitte. Was auf den ersten Blick unprofessionell wirkt, sorgt für mehr Tempo, Dynamik und passt perfekt zu unserer immer kürzer werdenden Aufmerksamkeitsspanne. Jean-Luc Godard hätte seine helle Freude an dieser Entwicklung, denn sie bricht mit den starren Regeln der Vergangenheit und eröffnet neue kreative Ausdrucksmöglichkeiten.

Social Media und Film: Neue Spielregeln des Erzählens

Was bedeutet dieser Wandel für den Film? Schneller, kürzer, mehr Schnitte – diese Maxime scheint auch hier zu gelten. Filme aus den 50er Jahren wirken im Vergleich zu modernen Produktionen geradezu gemächlich. Das liegt aber nicht nur am Schnitt, sondern auch an unserer veränderten Rezeptionskompetenz. Durch jahrelange Mediennutzung haben wir gelernt, Informationen schnell zu erfassen und Zusammenhänge selbst zu erschließen. Details, die früher explizit gezeigt werden mussten, können heute implizit vermittelt werden. Der Zuschauende von heute bringt mehr Vorwissen mit und kann Lücken in der Erzählung selbst füllen.

Nach wie vor gilt: Wandel als Chance

Der Wandel unserer Sehgewohnheiten stellt die Gestaltungsprinzipien der Vergangenheit in Frage oder besser: ordnet sie neu. Doch statt den vermeintlichen Tod des Goldenen Schnitts zu betrauern (natürlich ist er nicht tot), sollten wir die neuen Möglichkeiten erkunden, die sich uns eröffnen. Dynamische Ästhetik, flexible Layouts und kreative Kameraführung bieten die Chance, Geschichten neu zu erzählen. Die Zukunft der Bildgestaltung und des Storytellings liegt nicht im sklavischen Festhalten an alten Regeln, sondern in der innovativen Nutzung der Möglichkeiten.


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